1995

Die schönsten Sommerferien können durch den in den ersten Schultagen des neuen Schuljahres fälligen Aufsatz "Mein schönstes Ferienerlebnis" verleidet werden.

So ähnlich fühlten wir uns auch. Die Reise durch Indien, organisiert und geleitet von Diakon Karl Marx ist zu Ende. Und jeder fragt: Wie war es denn ?

Das ist nicht einfach zu erklären. Vor allem deshalb nicht, weil es sich nicht um eine von den herkömmlichen Touristikreisen handelte, sondern es ging in erster Linie um die Auseinandersetzung mit den vom Indienkreis unterstützten bzw. ins Leben gerufenen Entwicklungshilfeprojekten in Madras und Kerala. Ausflüge zu touristischen Sehenswürdigkeiten wie der Tempelanlage in Mahabalipuram oder nach Trivandrum und Kochin waren zweitrangig. Auch wurde gerade bei diesen Fahrten deutlich, dass Indien noch lange kein Land ist, das auf Fremde und ihre Bedürfnisse eingestellt ist. So sollten Europäer z.B. nur besonders abgekochtes Wasser trinken, da die indische Versorgung mit Trinkwasser nicht unserem Standard, d.h. unseren Hygienemaßstäben, entspricht. Auch empfiehlt es sich nicht, an einem der schönsten Strände einfach baden zu gehen. Es gibt in Indien keine Kanalisation, zur Entsorgung wird das Meer benutzt. Was das bedeutet, wenn mehrere Millionen Menschen – nur einer Stadt – den Weg über Flüsse, Seen und Meer zur Beseitigung

Ihrer Fäkalien wählen, lässt sich vorstellen.

Der erste Eindruck, den Indien vermittelt, ist der von bitterer Armut und Dreck. Den Gegensatz dazu bilden die vom Indienkreis in Madras unterstützten Missionsstationen Beatitudes, Pope Johns Garden, ein Stadtviertel, in dem nur Leprakranke leben, oder die Don Bosco Schule, eine Einrichtung für Waisenkinder. Alle diese vom Indienkreis unterstützten Entwicklungshilfeprojekte sind gekennzeichnet durch eine Atmosphäre des Vertrauens, des gegenseitigen Verstehens. Das erste, was die Entwicklungshelfer hier offenbar getan haben, war, sich mit der Denkweise und den Gefühlen der von ihnen betreuten Bevölkerung auseinanderzusetzen. Erst dann haben sie mit der sachlichen Auseinandersetzung begonnen: dem Austeilen von Mahlzeiten, dem Errichten von Kindergärten und Schulen, dem Aufbau von Krankenhäusern, der Installation von Toiletten und schließlich dem Einrichten von Werkstätten.

Alle diese Einrichtungen werden von den Indern vor allem deshalb angenommen, weil sie sich als Menschen von den Entwicklungshelfern letztlich verstanden und geliebt fühlen. Die Slumbewohner finden offenbar jederzeit und mit jedem Problem Zuflucht in den Stationen. Hierbei unterliegen beide Seiten, Helfer und Bewohner der Slums, einem ständigen Lernprozess. Die Entwicklungshelfer erziehen z.B. die Kinder dazu, zur Toilette zu gehen, die Erwachsenen dazu, weiter als nur bis zur nächsten Mahlzeit zu denken und für ihre Familien zu sorgen. Die Helfer lernen durch den Umgang mit den Slumbewohnern eine kultur- und religionsbedingt völlig andere Denkweise kennen.

Diese Erfahrung von gegenseitigem Geben und Nehmen zeigte sich dann schließlich auch und hier ganz besonders, in einem Trainingscenter für Fischerfamilien in SREYAS, Kerala, einem weiteren vom Indienkreis initiierten und geförderten Projekt. Nur den Mitteln des Indienkreises ist es zu verdanken, dass hier eine Art Musterfarm entstehen konnte, auf der die am nahegelegenen Ashtamudi See angesiedelten Fischerfamilien lernen können, wie sie Kleinvieh wirtschaftlich halten oder Fischzucht erfolgreich betreiben können. Viele der Fischer, denen wir begegneten, betrachten gerade Karl Marx als Freund. Er und seine verschiedenen Jugendgruppen haben hier Landungszentren für die Fischerboote, Latrinen und Brunnen gebaut, Bäume gefällt und gepflanzt und Land urbar gemacht.

Es wurde deutlich, dass sich diese Menschen nicht nur durch die materiellen Vorteile bereichert fühlen, sondern auch durch die Begegnung selbst. Das geht den Helfern und Karl Marx offenbar nicht anders. Viele sind schon zwei oder dreimal nach Indien gekommen, um in der Hitze und ohne jeden Komfort – wenn man Pech hat, hat man am Ende eines Arbeitstages kein fließendes Wasser – zu arbeiten.

Wichtig erscheint an dieser Stelle auch der Hinweis, dass es immer nur darum geht, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Die Fischerfamilien werden lediglich in ihrem Bestreben unterstützt, wieder Fischfang zu betreiben oder eine entsprechende Lebensgrundlage zu finden. Auf diese Weise bleiben sie nicht Abhängige einer Hilfsaktion.

So ist dann letztlich unsere Reise durch Indien eine Reise der Begegnungen geworden; wir schwärmen nicht von einmaligen Sehenswürdigkeiten, sondern von Kindern, die uns offen angelächelt haben und uns die Hand gaben, von Alten und Kranken, die die Weisheit ihres ganzen Lebens in einen Händedruck und eine Blick legten.

Christine Rottländer